Teilhabe(chancen) von Frauen mit
Lernschwierigkeiten
War es Zufall oder nicht –
jedenfalls sprach mich am 8.
März 2005, dem internationalen
Frauentag – die Schwester einer
jungen Frau mit
Lernschwierigkeiten auf unsere
Aktion Stolperstein an. Sie
erzählte mir, wie sehr es sie
persönlich berühre und auch
belaste, dass ihre Schwester
immer wieder zum Ausdruck
bringt, wie gerne sie ein Leben
ähnlich dem ihren führen würde.
Also mit einem Partner in einem
eigenen Haus mit Garten wohnen,
ein kleines Töchterchen haben
und mit dem zweiten Kind
schwanger sein, mit der Familie
auf Urlaub fahren. Die Frau
meinte, dass sich ihre Schwester
damit zwar ein Idealbild
vorstelle, eine
Familiensituation, in der es nie
Probleme gebe, die gar nicht so
rosig sei - und trotzdem: im
Grunde hätte ihre Schwester
nicht einmal die
Wahlmöglichkeit, sich nämlich
für oder gegen einen Partner,
Kinder, Haus- oder Erwerbsarbeit
zu entscheiden. Ihre Schwester
nehme dies auch als gegeben hin,
trauere aber deswegen – so ihr
Eindruck – doch sehr stark.
Leider musste ich der Frau aus
Sicht der Forscherin zustimmen,
dass die Teilhabe(chance) von
Frauen mit Lernschwierigkeiten
vor allem an Bereichen, die mit
der Identität als Frau verbunden
gelten, äußerst gering ist. Dies
insbesondere, wenn es um
Bereiche geht, die mit
Sexualität verbunden sind.
Sexualität und Behinderung kann
als doppeltes Tabu bezeichnet
werden, besonders stark trifft
das auf Menschen mit
Lernschwierigkeiten und hier
verstärkt auf Frauen zu. Für die
Frauen selbst sind Fragen, die
die Bereiche Familie,
Partnerschaft, Kinder und
Haushalt betreffen sehr wohl ein
Thema, dennoch scheint es vielen
unvorstellbar, diese
Lebensbereiche für sich selbst
auszufüllen. Dies wohl auch
deshalb, weil sie nicht selten
im Rahmen ihrer Sozialisation
von ihrem sozialen Umfeld auf
ihre Inkompetenz, bestimmte
Bereiche auszufüllen,
hingewiesen werden. Dies
betrifft vor allem einen
möglichen Kinderwunsch der
betroffenen Frauen. Es werden
auch Verbote genannt und von den
Frauen als gegeben hingenommen.
Für viele Frauen scheint ein
selbstständiges,
selbstbestimmtes Leben nicht im
Vorstellungsbereich der eigenen
Möglichkeiten zu liegen. Dies
deshalb, weil vorgezeichnete
Lebensmuster ihnen im Rahmen der
Sozialisation als „Normalität“
vermittelt werden.
Aus meiner Sicht scheint es
daher notwendig, Modelle von
möglichen selbstbestimmten
Lebensformen zu entwickeln und
sie fremdbestimmten
Lebensentwürfen gegenüber zu
stellen.
Fragen im Zusammenhang mit
Partnerschaft, Behinderung und
Sexualität spricht Dieter
Schmutzer in seinem Vortrag am
14.4.2005 an der Universität
Klagenfurt an.
Marion Sigot
12.
März 2005